Schottchor.com spricht mit Albrecht Haaf über seine Leidenschaft für Vokalmusik, wichtige Impulsgeber der eigenen Kompositionspraxis, Stil und Anforderungen seiner Chorwerke sowie eine nachhaltige Singbegeisterung auch außerhalb der Kirche.
schottchor.com: Was macht für Sie das Einzigartige an der Chormusik bzw. dem gemeinschaftlichen Singen aus?
A.H.: Der soziale Aspekt – diese spezielle Art, wie sich Menschen hier als Gruppe singend begegnen und kommunizieren können: innerhalb der Gruppe in ganz unterschiedlichen Sozialformen – mit oder ohne Chorleiter, von der boy- oder girlgroup bis hin zum großen Konzertchor – und dann auch als sich dem Publikum präsentierendes Ensemble. Ein weiterer Aspekt dieses Kommunikationskreises ist der Bezug zwischen Texten und Musik. Dieser Bezug kann speziell in der A-cappella-Musik in Komposition und Interpretation ein Höchstmaß an künstlerischer Differenzierung erfahren.
schottchor.com: Sie selbst sind ja auch ein herausragender Pianist und leidenschaftlicher Klavierpädagoge. Was fasziniert Sie gerade an der Vokalmusik so sehr, dass Sie Ihren eigenen kompositorischen Schwerpunkt nicht auf das Klavier, sondern auf die Vokalmusik gelegt haben?
A.H.: Es ist die Verbindung von Text und Musik, die aus meiner Sicht für jetzt lebende Komponisten noch mehr Freiräume zulässt als z.B. die Klaviermusik, in der schon sehr viel Wesentliches ausgedrückt wurde – Vokalstimmen können unter anderem auch den wohltemperierten Klangraum verlassen, was ein Klavier nur unter „Schmerzen“ (verstimmen, umstimmen, präparieren …) zulässt.
schottchor.com: In Ihrem Werkkatalog dominieren A-cappella-Kompositionen. Würden Sie uns verraten, wer diesbezüglich Ihre wichtigsten kompositorischen Impulsgeber, womöglich sogar Ihre musikalischen „Hausgötter“ sind?
A.H.: Natürlich sind auch für mich die Motetten von J.S. Bach oder diejenigen von Anton Bruckner und in neuerer Zeit eine Komposition wie „Lux aeterna“ von György Ligeti Meilensteine der Chormusik. Doch zum Beispiel der nachstehend aufgeführte Wolfram Buchenberg, den ich schon kennenlernen durfte und der kein „Hausgott“ für mich ist, sondern eben ein sehr geschätzter Kollege, hat sicher mehr Einfluss auf meine Art zu schreiben als viele Großmeister der Musikgeschichte.
schottchor.com: Verraten Sie uns fünf Chorwerke aus fremder Feder, die Sie persönlich nachhaltig fasziniert haben?
A.H.: Die von mir ausgewählten nachstehenden Kompositionen haben bei aller Unterschiedlichkeit etwas gemeinsam: die klangliche Intensität.
1. Josquin Desprez: Kyrie aus der „Missa Pange lingua“
2. Hugo Distler: „Um Mitternacht“ aus dem „Mörike-Chorliederbuch“
3. Alfred Schnittke: Chorkonzert Nr. 1 („O Master of all living things“)
4. Wolfram Buchenberg: „Veni, dilecte mi!“
5. A. Edenroth (‚TheReal Group‘): „Chili Con Carne“
schottchor.com: Inwieweit färbt Ihr Faible für Jazz, Pop und Rock konkret auf Ihre eigenen Chorkompositionen ab?
A.H.: Populäre Klänge und Rhythmen versuche ich unabhängig von gängigen Klischees für meinen individuellen Stil zu nutzen. Die Textbezogenheit kann dabei helfen, sich nicht ständig auf dieses innerhalb der tonalen Musik stets präsente Minenfeld der historisch besetzten Assoziationen zu verirren, also aus überkommenen Mustern auszubrechen.
schottchor.com: Wie würden Sie selbst Ihren Personalstil beschreiben?
A.H.: Vielleicht ist er zu definieren als der immer wieder neu unternommene Versuch, über den Parameter Klang bzw. Klangfarbe seelische Befindlichkeiten zu spiegeln.
schottchor.com: In Ihrem Werkverzeichnis findet man wiederholt die Angabe „mittelschwer bis schwer“. Für welche Chöre sind diese Stücke realisierbar und welche Voraussetzungen sollten die SängerInnen mitbringen?
A.H.: Meine Kompositionen können vor allem gut von Konzertchören gesungen werden, die es gewohnt sind, ein breit angelegtes Repertoire zu pflegen, welches unterschiedliche stilistischen Epochen und Genres umfasst. So gesehen, sind diese Stücke auch für routinierte Amateurchöre geeignet. Die kommenden neuen Veröffentlichungen für 2014/15 sind zum Teil bewusst so angelegt, dass diese trotz eines künstlerischen Anspruches auch eine (noch) breitere Zielgruppe ansprechen könnten.
schottchor.com: Wie würden Sie Ihr A-cappella-Klangideal beschreiben?
A.H.: Dem jeweiligen Stück angemessen: Ein Chor mit nicht ausgebildeten Stimmen, also ein sogenannter „Laienchor“, kann mit dem für ihn genau passenden Stück sicher manchmal individueller (unverwechselbar ...) berühren als ein „Profichor“ – umgekehrt sollte jeder Chor bzw. dessen Leiter aber auch seine Grenzen kennen. Schönheit beginnt dort, wo der Hörer vergisst, über Intonation, Balance und weitere Aspekte der Interpretation nachzudenken.
schottchor.com: Lebt aus Ihrer Sicht die Chormusik überwiegend durch die Kirchenmusikpraxis? Oder beobachten Sie gerade als Musikschulleiter womöglich auch wieder ein wachsendes Interesse am gemeinsamen Singen außerhalb der Kirche?
A.H.: Dass Kinder wie Erwachsene generell sehr gerne auch außerhalb der Kirche singen, kann und konnte ich als Leiter einer städtischen Musikschule anhand zahlreicher Projekte unserer Vokalklasse feststellen. Dort wird alles gesungen – vom neusten Hit von Adele im Jugendchor bis zum Volkslied im Kurs „Singen macht fit!“ (Senioren). Anstelle der dörflichen Gesangvereine gibt es jetzt mehr Projektchöre und auch an den Schulen spielt das Chorsingen nach wie vor durch alle Klassenstufen hindurch eine große Rolle.
schottchor.com: Würden Sie für uns abschließend noch folgenden Satz vervollständigen: „Chormusik ist für mich …
A.H. … eine wohltuende Massage für die Seele.“